Religionsfreiheit im Fokus – Politik, Verantwortung und Glauben 

«Wir stehen auf dem Fundament des Christentums», sagte Bundesrat Albert Rösti in seinem Referat und erinnerte dabei an das christliche Erbe der Schweiz, welches zentrale Werte des Zuammenlebens hervorgebracht hat.

Fünfzig Jahre nach den legendären Schweigemärschen von 1975, als in Zürich und Bern über 15’000 Menschen für bedrängte Christinnen und Christen in der Sowjetunion demonstrierten, hat die Tagung Religionsfreiheit im Fokus im Berner Kornhausforum das Thema neu ins Bewusstsein gerückt. Sie erinnerte daran, dass Glaubens- und Gewissensfreiheit kein Privileg, sondern ein universelles Menschenrecht ist – und dass sie überall dort verteidigt werden muss, wo sie bedroht ist. 

Der Anlass brachte Politik, Theologie und Betroffene miteinander ins Gespräch: Bundesrat Albert Rösti und Nationalrätin Sibel Arslan verbanden unterschiedliche Perspektiven auf Verantwortung und Glauben; Zeitzeuginnen aus Indien, Irak und Nigeria berichteten von mutigem Widerstand gegen Diskriminierung und Gewalt; Theologen wie Hansjörg Stückelberger und Thomas Schirrmacher erinnerten an die geistigen Wurzeln und die politische Bedeutung der Religionsfreiheit. Eindrücklich zeigte der Tag: Religionsfreiheit ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, sondern ein Auftrag – für Kirchen, Staaten und jede einzelne Person. 

Vergangenheit und Gegenwart
Im Video-Interview mit Ladina Spiess erinnert sich Pfarrer Hansjörg Stückelberger an den ersten grossen Schweigemarsch für verfolgte Christinnen und Christen im Jahr 1975, der über 10’000 Menschen vom Limmatquai bis zum Münsterhof in Zürich versammelte. Unterstützt von einer PR-Firma wurde der Marsch zu einem eindrücklichen Zeichen der Solidarität mit bedrängten Glaubensgemeinschaften. Reden, Gebet und Spenden – über 50’000 Franken kamen zusammen – prägten diesen Moment kirchlicher Öffentlichkeit. 

Aus dieser Bewegung ging später die Organisation Christian Solidarity International (CSI) hervor. Stückelberger betont im Gespräch die bleibende Aktualität des Themas: Religionsfreiheit sei ein göttliches Gut, das aus der von Gott geschenkten Freiheit des Menschen hervorgehe. Diese Freiheit müsse immer wieder verteidigt werden – auch gegen die Tendenz, Macht in autoritären Strukturen zu konzentrieren. 

In der ersten Videobotschaft betont Suzan Khoshaba aus dem Irak, dass Religionsfreiheit eng mit Identität, Geschichte und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt eines Landes verknüpft ist. Besonders in Ländern mit religiöser Vielfalt wie dem Irak sei sie zentral, um Einheit, Bürgersinn und gegenseitigen Respekt zu fördern. Sie beschreibt, dass Minderheiten oft von Bildung, öffentlichem Leben und Gesetzgebung ausgeschlossen sind. Dies führe zu Diskriminierung, etwa durch Gesetze zur Islamisierung von Minderjährigen oder durch Gewalt gegen religiöse Gruppen, wie Christen. 

Abschliessend fordert sie, Strukturen zu schaffen, die religiöse Minderheiten sicher, respektiert und geschützt sein lassen – als Grundlage für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger. 

Politik zwischen Religion und Verantwortung
An die beiden Video-Sequenzen knüpften zwei politische Stimmen an, die unterschiedlicher kaum hätten sein können – und sich dennoch im Ziel einig zeigten: Religionsfreiheit bleibt eine unverzichtbare Grundlage für das Zusammenleben. 

Bundesrat Albert Rösti erinnerte daran, dass die Schweiz ihre zentralen Werte – Würde, Freiheit, Eigenverantwortung und Respekt vor dem Leben – dem christlichen Erbe verdanke. „Wir stehen auf dem Fundament des Christentums“, sagte er. „Wir sind ein Ergebnis des Christentums und der Aufklärung.“ Rösti, selbst Mitglied der reformierten Landeskirche, zeichnete den Weg von der Reformation in Bern bis zur modernen Schulpflicht nach und betonte: Freiheit brauche Ordnung, und Ordnung wurzle in moralischer Verantwortung. 

Angesichts sinkender Kirchenmitgliedschaften stellte er die unbequeme Frage, wie tragfähig dieses Fundament heute noch sei. „Vielleicht glauben manche, wir hätten die christlichen Werte so verinnerlicht, dass wir keine Religion mehr brauchen. Aber das ist ein Irrtum.“ Rösti lobte den Einsatz der Kirchen für verfolgte Glaubensgeschwister, und mahnte zugleich, in einer säkularen Gesellschaft das geistige Fundament nicht zu verlieren. 

Nationalrätin Sibel Arslan brachte eine andere Perspektive ein. Als Tochter alevitisch-kurdischer Eltern erzählte sie, wie ihre Familie den Glauben aus Angst verschwieg – bis sie mit zwölf Jahren davon erfuhr. „Viele Alevitinnen und Aleviten werden bis heute unsichtbar gemacht“, sagte sie. Freiheit, so Arslan, beginne im Kleinen: im Zuhören, im Respekt, in echter Begegnung. Sie forderte von den Kirchen – im Gegensatz zu ihrem Vorredner – auch Engagement für ökologische Gerechtigkeit, die sie aus ihrer religiösen Sozialisierung heraus theologisch begründete. Religionsfreiheit ist ein Thema, das Sibel Arslan persönlich betrifft: „Ich bin stolz, dass ich als ehemaliges Flüchtlingskind in der Schweiz frei sprechen darf – über Themen, die in meiner Kindheit tabu waren.“ 

Stimmen aus Nigeria: Glaube statt Angst
In kurzen Videosequenzen wurden Berichte von Verfolgung betroffener Christen in das Berner Kornhausforum eingebraucht. Besonders bewegend war das per Video übermittelte Zeugnis von Pastor Yousuf Mbaia aus Nigeria. In ruhigen Worten schilderte er die Eskalation der Gewalt durch Boko Haram und Fulani-Milizen: Mehr als zwanzig Pastoren seien getötet worden, über 2,3 Millionen Menschen auf der Flucht. „Unsere Gemeinden werden angegriffen, unsere Häuser zerstört – doch wir sind und bleiben Kirche“, sagte er. Sein Satz „Unser Glaube ist stärker als unsere Angst“ hallte im Saal nach. 

Ein weiterer Pastor, Reverend Dr Hassan John, sprach von der „sprunghaften Zunahme der Gewalt“. Es brauche mehr als Dialog – es brauche Einsicht und Umkehr der Täter. Nur wer Unrecht anerkenne, könne Frieden stiften. 

Expertengespräche: Indien und Irak
Im anschliessenden Expertengespräch berichteten Parul Singh, Rechtsanwältin und nationale Direktorin einer Menschenrechtsorganisation in Indien, und Pater Emanuel Youkhana, Erzdiakon der Assyrischen Kirche des Ostens und Leiter des Hilfswerks Christian Aid Program (CAP) in der Kurdischen Region des Irak, von den realen Herausforderungen in ihren Ländern. 

Für Parul Singh ist die Lage der Christen in Indien „furchteinflössend“. Die Zahl dokumentierter Angriffe sei in den letzten zehn Jahren um 500 Prozent gestiegen. Zwölf von 28 Bundesstaaten haben sogenannte Anti-Konversionsgesetze eingeführt, die offiziell der Religionsfreiheit dienen sollen, in der Praxis aber Minderheiten schutzlos ausliefern. Wer den Glauben wechselt, muss sich bei Behörden melden – ein Vorgang, der Radikale oft direkt informiert und Übergriffe provoziert. 

Singh berichtete, dass viele Christinnen und Christen ihre Arbeit, ihr Land und selbst das Recht auf Bestattung verlieren. Ihre Organisation arbeitet im Verborgenen und schult Gemeinden in rechtlichen Fragen, um sie zu befähigen, sich gegen Übergriffe zu wehren. „Wir können nicht auf den Staat warten“, sagte sie. „Wir müssen das Recht kennen, um es verteidigen zu können.“ 

Pater Emanuel Youkhana beschrieb die Situation im Irak als ambivalent: Einerseits herrsche nach den Kriegsjahren eine gewisse Stabilität, andererseits bleibe die strukturelle Diskriminierung bestehen. Die irakische Verfassung erkenne nur fünf Religionen an, andere würden marginalisiert. Besonders drastisch sei die Regelung, wonach Kinder automatisch als Muslime gelten, wenn ein Elternteil konvertiert – eine gesetzliche Zwangskonversion. 

Trotz dieser Lage zeigte Youkhana auch hoffnungsvolle Perspektiven: Die kurdische Regionalregierung stelle Land für Kirchen zur Verfügung, fördere Dialog und ermögliche Begegnung. Sein Hilfswerk CAP konzentriert sich auf Bildungs- und Gesundheitsprojekte sowie die Bewahrung der syrischen Sprache. „Wir wollen, dass unsere Menschen bleiben können“, sagte er. „Denn unsere Gegenwart ist Zeugnis – auch wenn sie gefährlich ist.“ 

Keynote von Erzbischof Thomas Schirrmacher: Religionsfreiheit als universelles Menschenrecht
In seiner Keynote erinnerte Erzbischof Prof. Dr. mult. Thomas Paul Schirrmacher, Präsident des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, daran, dass Religionsfreiheit das universelle Menschenrecht sei, das die innere Überzeugung jedes Menschen schützt. „Es geht um das, was den Menschen zum Menschen macht“, sagte er. 

Schirrmacher warnte vor vereinfachten politischen Lösungen, etwa dem Versuch, Christenverfolgung militärisch zu beenden. Am Beispiel Syriens zeigte er, dass Minderheiten wie Christinnen, Jesiden oder Drusen nur überleben, wenn es internationale Schutzstrukturen gibt. Doch Hilfsbereitschaft allein genüge nicht – es brauche politische Verantwortung. 

Er betonte: Der Einsatz für verfolgte Christen müsse stets Teil eines grösseren Ganzen sein – der Freiheit des Glaubens und Nichtglaubens. „Christen kämpfen nicht nur für Christen, sondern für die Freiheit jedes Menschen, zu glauben oder nicht zu glauben.“ Schon Martin Luther habe gefordert, dass der Staat alle Bürger schützen müsse, „sogar die Türken“. Wer Religionsfreiheit nur für sich beanspruche, verrate das eigene Fundament. 

Anhand aktueller Beispiele beschrieb Schirrmacher den Aufstieg religiösen Extremismus in Indien und im Islam – eine Entwicklung, die besorgniserregend sei, weil sie Gewalt mit religiöser Legitimation verknüpfe. In der Türkei gebe es für niemand echte Religionsfreiheit, nicht einmal für Muslime, die anders glauben wollten als die staatliche Religionsbehörde (Diyanet). „Imame bekommen ihre Predigten zugeschickt – selbst die Predigtfreiheit ist aufgehoben“, sagte er. 

Besonders eindringlich sprach er über Nigeria, wo laut IIRF rund 90 Prozent der weltweit jährlich 5000 christlichen Märtyrer zu verzeichnen sind. Die Gewalt islamistischer Milizen habe katastrophale Ausmasse erreicht, der Staat versage. „Ein Staat, der Religionsfreiheit nicht garantiert, wird ein failed state sein“, sagte er. Glaube könne nicht erzwungen werden – „eine Taufe unter Zwang ist keine Taufe“. 

Schirrmacher schloss mit einem Appell an Politik und Kirchen: Religionsfreiheit beginne mit dem Respekt vor der Überzeugung des Anderen – und ende dort, wo Gewalt im Namen des Glaubens gerechtfertigt werde. 

Gemeinsame Botschaft der Kirchen
Zum Abschluss stellten die Veranstaltenden die Gemeinsame Botschaft der Kirchen der Schweiz (https://www.religionsfreiheit-im-fokus.ch/botschaft-der-kirchen/) vor, unterzeichnet von der EKS, der Bischofskonferenz, der Christkatholischen Kirche, Freikirchen.ch und der Evangelischen Allianz. 

Die Erklärung betont vier Grundsätze: 

1. Kirche als universale Gemeinschaft, verbunden im Glauben und im Leiden. 

2. Glaubensfreiheit als Menschenrecht, das alle schützt. 

3. Religiöse Toleranz als dauernde Lerngeschichte. 

4. Gemeinsame Verantwortung für verfolgte Minderheiten – auch im Asylwesen. 

Die Kirchen rufen dazu auf, informiert zu bleiben, zu beten, zu helfen, aufzunehmen und sich aktiv für Religionsfreiheit einzusetzen – in der Schweiz und weltweit. 

Ein Tag, der nachhallt
Am Ende blieb keine bequeme Gewissheit, sondern eine geteilte Einsicht: Religionsfreiheit ist nicht garantiert. Sie lebt vom Engagement all jener, die an die Würde jedes Menschen glauben. Die Tagung zeigte, dass Glaube und Freiheit nur dort Bestand haben, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Oder, wie Pastor Mbaia aus Nigeria sagte: „Unser Glaube ist stärker als unsere Angst.“

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